Die Zukunft des Retail

Alle 50 Jahre unterliegt der Handel gravierenden Veränderungen und es stellt sich die Frage, wie sich die Zukunft des Retail aus heutiger Sicht gestalten wird. Vor rund 150 Jahren trugen das Wachstum großer Städte und der Ausbau des Eisenbahnnetzes zur Entwicklung eines modernen Retails bei. Die Massenproduktion von Kraftfahrzeugen erfolgte ca. 50 Jahre später und bald entstanden große Einkaufszentren außerhalb der Städte, die wiederum zur Herausforderung für Ladengeschäfte in den Städten wurden. Die 60er und 70er waren die Jahre der Discounter (z.B. Walmart) und seit Beginn des neuen Jahrtausends nimmt der Siegeszug des eCommerce seinen Lauf. Jede Welle der Veränderungen löste die vorhergehenden Formen zwar nicht ab, veränderten jedoch die Landschaft des Retail und damit verbunden auch die Kundenerwartungen. Das Web 2.0 und der damit verbundene Einfluss sozialer Netzwerke (fCommerce), die jüngste Entwicklungen im mCommerce, die Entwicklungen des Tablet-Markts (tCommerce), immer neu hinzukommende Wettbewerber (z.B. Hersteller, ISPs, Intermediäre, Gate-Keeper, etc.) bzw. neue Geschäftsmodelle beschleunigen disruptive Veränderungen und stellen damit nicht nur traditionelle Offline-Retailer, sondern auch etablierte respektive aufstrebene Online-Retailer vor neue und teilweise auch große Herausforderungen.

Heutzutage sind Nutzer in der Lage, sich über mobile Devices im stationären Handel über Vergleichspreise bzw. das nächste, beste Angebot (NBO) zu informieren. Nutzer greifen von stationären PCs, über Laptops, Netbooks, über ihre Smartphones oder Tablet-PCs von jedem Ort zu jeder Zeit über verschiedene Kanäle auf Präsenzen von Retailern zu. Durch den einfachen Zugriff auf Technologie, die Preistransparenz der Kunden und eine hohe Wettbewerbsintensität sind für viele Retailer Wettbewerbsvorteile nur noch über ein hohes Maß an Service, eine Bindung an die Marke und genaueste Kenntnisse über den Nutzer bzw. den Kunden zu erlangen. In der Zukunft liegt die Herausforderung für Retailer daher vor allem darin, diese einzelnen Kanäle derart gezielt abzustimmen, dass Nutzern ein integriertes und stimmiges Serviceportfolio sowie Nutzererlebnis geboten werden kann. In diesem Zusammenhang kann von Omnichannel-Retailing (Harvard Business Review [HBR]) bzw. Agile Commerce (Forrester) gesprochen werden. Diese beiden Begriffe stehen für nichts anderes als für die Tatsache, dass Retailer über zahlreiche Kanäle wie die eigene Webseite, physische Ladengeschäfte, Direktmailing, Kataloge, Call Center, Social Media, Mobile Endgeräte, Spielekonsolen, TV-Geräte, vernetzte Anwendungen, eingebettete Hardware, etc. mit dem Kunden interagieren können.

Auf die Frage hin wie der Retail in fünf Jahren aussehen kann, zeichnen der HBR in seinem Dezember-Spotlight (2011) und Forrester Research ein interessantes Bild. Bereits 2014 wird fast jedes mit dem Internet verbundene Mobiltelefon ein Smartphone sein und ca. 40% aller Amerikaner werden Tablets wie das iPad nutzen. Sehr viele eCommerce-Aktivitäten werden sich damit in den mCommerce (Anteil am US-eCommerce in 2016: 7%) oder tCommerce verlagern. Tablet-Nutzer werden einer Studie zufolge primär auch diese anstelle von Smartphones oder PCs für Online-Shopping-Aktivitäten nutzen. Dies wird zuerst in den USA und mit etwas zeitlicher Verzögerung auch in Europa bzw. Deutschland zu beobachten sein. Von der Online-Retail-Seite aus gesehen wird klar sein, dass viele Unternehmen in Zukunft ihre Strategien in Richtung „Mobile“ und „Tablet“ optimieren. In meinen Augen ist absehbar, dass dieses Vorgehen alleine keine nachhaltigen Wettbewerbsvorteile generieren wird. Für Gedanken zur weiteren Differenzierung halte ich folgendes Szenario am Beispiel des Jahres 2016 für ziemlich spannend:

Lisa (26) benötigt für eine Feier ein neues Outfit. In 2011 wäre sie wohl in das nächste Einkaufszentrum bzw. in die Stadt gefahren, um sich in Ladengeschäften inspirieren und zum Kauf verleiten zu lassen. Heute beginnt sie ihren Einkauf per Videokonferenz mit ihrer persönlichen Beraterin bei HA&EM, wo sie vor einem Monat bereits zwei Outfits gekauft hat. Ihre Beraterin empfiehlt einige Kleidungsstücke anhand eines Avatars, der Lisa’s stark ähnelt. Davon wählt Lisa einige aus und überprüft auf einem anderen Browser-Tab passende Kundenreviews und vergleicht gleichzeitig deren Preise. Sie findet über Produktpreissuchmaschinen teilweise bessere Preise bei anderen Anbietern und bestellt auch dort. Einen Teil bestellt sie bei HA&EM und anschließend sucht sie noch eine Filiale in der Nähe auf um einige Lagerware anzuprobieren.

Als Lisa dort ankommt wird sie von einem Verkäufer mit ihrem Namen begrüßt und zu einer Ankleide begleitet, wo bereits das online bestellte Kleidungsstück parat liegt und dazu noch einige Schuhe und passende Bekleidungsstücke als persönliche Empfehlung. Ihr gefallen die Schuhe und sie scannt deren Barcode um einen Preisvergleich durchzuführen. Da sie diese Schuhe um 30 EUR günstiger bei einem anderen Store findet zieht der Verkäufer mit dem günstigeren Preis gleich und ermutigt Lisa, weitere Kleidungsstücke zu probieren. Aufgrund deren Preise sendet Lisa entsprechende Produktvideos per Smartphone an modebewusste Freundinnen und fragt nach deren Meinung. Deren Antwort, per SMS und facebook-Kommentar, lässt nicht lange auf sich warten, alle Daumen nach oben. Sie wählt die Kleidungsstücke die sie schlussendlich möchte, sucht noch schnell im Internet nach Gutscheinen und bezahlt über ihr Smartphone. Einige der gekauften Produkte präsentiert sie stolz auf ihrer facebook-Pinnwand.

Auf dem Weg zur Tür macht Lisa ein lebensgroßer Bildschirm auf ein Spezialangebot aufmerksam. Lisa prüft noch schnell ihr Guthaben, lächelt und scannt mit ihrem Smartphone den QR-Code auf dem Bildschirm. Das Spezialangebot wird über Nacht an sie versendet. Auf dem Weg zurück zur Wohnung erhält Lisa über einen Location-Based-Service noch einen Coupon von einem Restaurant auf dem Weg übermittelt in dem es heute drei Cocktails zum Preis von einem gibt. Sie lädt Ihre Freundinnen auf einen Drink um 2100 Uhr ein.

Dieses Szenario wirkt auf dem ersten Blick zwar ziemlich fiktiv, ist dabei jedoch weder futuristisch noch abstrus. Alle Technologien die Lisa nutzt sind bereits verfügbar und innerhalb der kommenden Jahre werden viele dieser Technologien auch eingebettet bzw. im Einsatz sein. Es scheint als ob dabei sowohl ein Traum auf Nachfrager-Seite als auch ein Albtraum auf Anbieterseite wahr wird. Gerade hier liegen jedoch sowohl für traditionelle Retailer als auch für Online-Retailer große Chancen bei überschaubaren Risiken.

Um auf Dauer sowohl im stationären Geschäft als auch online überleben zu können, müssen Retailer ihre Geschäftsmodelle neu ausrichten und passende Strategien entwickeln, die auf Omnichannel-Retailing bzw. Agile Commerce ausgelegt sind. Das bedeutet, die langjährige Produkt- und Vertriebserfahrung gezielt mit den Vorteilen von Ladengeschäften und den Vorzügen des Online Shoppings zu kombinieren. Um dies zu erreichen werden sie sich bestimmten Herausforderungen stellen dürfen. Viele (traditionelle) Retailer verfügen nicht oder nur unzureichend über die notwendigen Technologien. Einige werden sich über die Trial-and-Error-Methode herantasten und benötigen dabei neue Talente bzw. neues Know-how in ihren Unternehmen sowie neue Metriken zur Messung von Erfolg. Traditionelle Retailer müssen die Lücke der fehlenden Online-Retail-Profession von einer Schwäche in eine Stärke umwandeln oder beide Welten gezielt miteinander kombinieren. Es gilt das Einkaufen in ein unterhaltendes, aufregendes und emotional engagierendes Erlebnis verwandeln. Unternehmen wie Disney und Apple sind hierbei bereits führend.

Reine Online-Pure-Player werden, um nachhaltige Wettbewerbsvorteile aufbauen zu können, meiner Ansicht nach den umgekehrten Weg gehen müssen. Sie sollten ihre Markenpräsenz und Service-Portfolio über physische Verkaufsflächen, unter Nutzung eines gaballten technologischen Know-Hows und unter Zuhilfenahme aufeinander abgestimmter, integrierter Kanäle, sukzessive ausbauen. Häufig müssen bestehende Geschäftsmodelle hintefragt, angepasst, ggf. eliminiert und teilweise auch vom Reissbrett aus neu entwickelt werden, wobei jedes Mal gilt „… model smart & play tough!“

Quellen:

  • Harvard Business Review, December ’11
  • Forrester Research Inc.